Zeit, hat Zeit.

Zeitmanagement

Wenn ich viel freie Zeit habe, verbringe ich meist viel freie Zeit damit darüber nachzudenken, was ich denn jetzt mit soviel freier Zeit anfangen könnte.

Und, meist ganz plötzlich, habe ich dann was ich fast immer habe: viel zuwenig freie Zeit!

—/—

Aus:

„Carlders alltägliche Selbst(v)erkennung“

Neues von Paul

„Danke, Freund.

Meine Nachricht hier, an dich, schenkt dir Leben. Du musst sie nicht lesen. Gib sie einfach weiter. Lass sie gelesen sein. Meine Worte, sind dein Atem. Mein Bleistift, ist dein Blut. Meine Nachricht, dein Leben. Lass sie nur gelesen sein!“

Paul.

Ich las es, las es zweimal, ich verstand nichts.

Paul hatte mir einen Gedanken gesendet, hatte mich wissen lassen, er benötige für kurze Zeit einen Raum, etwas möglichst leeres, möglichst ungenutztes.

Spasshalber, und sehr spontan, bot ich ihm meinen Kopf an, dieser würde seinen Suchkriterien am ehesten entsprechen.

Nicht minder spontan seine Antwort: „Ja. Danke.“ – dann zog er ein.

Ich verlies mich. Nahm gebührend Abstand. Für einen Moment hatte ich vergessen wer, wie Paul war. Was er sagt, zählt. Und das ist auch seine Erwartung an mich. Meinen Kopf anzubieten war übereilt, nichtsdestotrotz hatte ich es getan. Nur das zählte.

Wie viel Zeit verging, zwischen seinem Einzug, und jetzt, da ich diese Zeilen lese, ich weiß es nicht zu sagen.

In der Tat, ich werde ein Buch geschrieben haben! Sie halten es bereits in ihren Händen. Sie lesen die erste Zeile mit den bedeutenden Worten: „In der Tat, ich werde ein Buch geschrieben haben! Sie halten es bereits in ihren Händen.“

Und jetzt können wir, Sie, die sie mein Buch zu lesen beginnen, und ich, der ich mein Buch zu schreiben beginne, zusammen erfahren, erleben, teilhaben daran, wie sich Textpassagen als Erinnerungen einbringen, noch bevor sie niedergeschrieben, noch bevor, was sie aussagen, überhaupt erdacht wurde.

Bitte, blättern sie weiter!

Sie sind.

Sind Sie?

Sie sind!

Bitte, blättern sie weiter!

Wären sie nicht, würden sie nicht lesen was hier stünde, was ja geschrieben wird während sie es lesen.

Und deshalb sind sie. Bin ich.

Weil wir uns wahrnehmen. Sie, der sie bereits lesen was ich gleich schreiben werde. Ich, der ich sie lesen lasse was sie mich schreiben lassen während sie mich lesen, während ich (ihnen) schreibe.

Wir müssen uns nicht sehen, müssen nicht gesehen werden, niemand braucht einen zu hören. Alles was es braucht, ist, Wahrnehmung.

Es reicht also, das Gerücht!

„Hast du schon gehört, da gibt es einen, der in Köpfe einzieht!“

Ja, und ganz egal was der in einem Kopf denn nun gesagt, getan oder auch nur gelassen hat, wir haben ihn wahrgenommen in dem Moment, als man uns von ihm erzählte. Sie mir von ihm erzählten, während ich ihnen von ihm schrieb.

Die Geburtsstunde eines, vielleicht schon sehr alten, oft schon ungeborenen, in unserem Kopf.

So funktioniert Religion.

So funktioniert Angst.

So funktioniert Kontrolle.

So funktioniert Leben.

Niemand wird aus dem Bauch heraus geboren. Wir alle sind aus einer Nachricht geschlüpft. Aus einem Brief, einer Fotografie, einem Anruf.

Niemand stirbt, bevor nicht die Nachricht über seinen Tod uns erreicht.

Existenz? Nur wenn bestätigt.

Ja, in der Tat, ich werde ein Buch geschrieben haben! Sie halten es bereits in ihren Händen. Sie lesen die erste Zeile mit den bedeutenden Worten: „In der Tat, ich werde ein Buch geschrieben haben! Sie halten es bereits in ihren Händen.“

Und bereits die zweite Zeile erzählt von dem Bericht eines Lesers, über den Tod seines Lieblingsautoren, dessen Buch, an dem dieser noch schrieb, er gerade zuende las…

Ich sah es, las es, ich verstand nichts.

Paul war ausgezogen.

Bild und Text, Carlder

Rab enge dicht

Ein Rab‘ auf dem Stein
Jetzt grad‘ nur allein
Ein einziger Rab‘ – ein einziger Stein

Sein Blick grad auf dich
Ist dein Blick grad auf mich
Messerspitz dieser Schnabel
Rabenschwarz die Parabel

Der Stein unterm Raben
Gleichwie von ihm begraben
Begräbst du mich
Begräbst mit mir dich

Ein einziger Stein jetzt
Kein einziger Rab‘
Ein einziger Stein – Ein einziges Grab

–/–
Text by Carlder
Foto by Pixabay.com

Neues von Paul

Heute traf ich ihn am Rhein. Sonst morgens mit Rad und Socke (mein Hund) hier unterwegs, hatte ich mich spontan am späteren Nachmittag für einen meditativen Steinsuch- und Sammelgang mit mir allein entschieden.

Paul saß, für mich überraschend, hinter einer kleineren Steinbuhne, die aufgrund des niedrigen Wasserstandes höher aufragte als gewöhnlich.

Er daß da, auf einem schmalen Streifen Sandstrand nahe am Wasser, gegen einen klobigen Stein gelehnt, ein Bein gestreckt, eins angewinkelt.
Mit der Rechten fixierte er einen Schreibblock auf dem angewinkelten Bein, mit der Linken führte er in raschen, abgehackten Bewegungen eine Schreibfeder.

„Paul!“

…er nahm mich gar nicht wahr, sah nicht auf, nicht zu mir her. Er schrieb, den Kopf gesenkt.

Ich erkannte diese Aussage in seiner Körpersprache, verstand nur zu gut. Verhielt mich ruhig, rief kein zweites Mal zu ihm rüber.

Um abzuwarten, eine Weile wenigstens, ging ich in die Hocke und nahm eine halbwegs entspannte Haltung ein. Gerade begann ich meine, bis dahin aufgenommenen, Steine vor mich auszubreiten, sie zu betrachten, als ich wahrnahm, wie Paul ruckartig in die Senkrechte kam.

Ich sah ihn direkt an. Er stand da, erwiderte meinen Blick. Ob er mich tatsächlich auch sah, hätte ich mit Bestimmtheit nicht sagen können.
Ich sprach ihn nicht an, blieb hocken, winkte ihm wie beiläufig.

Er machte einen Schritt, den nächsten, kam auf mich zu. Aber er hielt nicht an als er mich erreichte.
Es kann sein, dass ich einen vagen Gruß an mich in seinen Blick hineininterpretierte.
Dann war er auch schon vorbei. Ging zügig weiter. Ich sah ihm nach. Er ging schnell, entfernte sich.

Bevor sein Bild für mich zu klein wurde bekam ich noch mit, dass er kurz verharrte, ein Papierblatt von seinem Block riss, es zerknüllte, dann heftig zu Boden warf. Bald danach schon verschwand er da, wo der Fluss einer Biegung folgt.

Ich brauchte nicht sehr lange um das zerknüllte Papier zu finden, es zu glätten.
Es zu lesen fiel auch nicht schwer. Überraschend leicht sogar. Aber das hatte ich eigentlich nicht anders erwartet. Ich wusste schon, immer wenn Paul mit der Feder schrieb, brachte er seine Buchstaben und Worte erstaunlich akkurat zu Papier.

Meine Augen bewegten sich entlang seiner mit Tinte gezogenen Linien:

Ich war in vieler Menschen Leben.

Irgendwann werde ich als letzten irdischen Besitz einen Grabstein mein Eigen nennen. Auf ihm wird dann der eine Satz zu lesen stehen:

„Ich war in vieler Menschen Leben…“

Und Jahre später wird man auf, an und in dem Stein die ätzenden Spuren von Speichel finden, die sich tief eingegraben haben.
Denn, ja, ich war
…in vieler Menschen Leben!

Text und Bild ©by Carlder

Von wegen! Fliegende Hunde sind gar keine Fledermäuse… !

Zwergenruh‘ 

Im Unterholz 

so dichte 

schützt vor 

gelbem Sonnenlichte 

sich ein Zwerg 
Und so ruht er 

gönnt sich Muße 

seinen Füßen 

auch die Blöße 

auf seinem Weg zum Berg 
…es wird kaum flieh’n 

sein Tagewerk. 
 

/

Foto und Text, by Carlder

WANDgeBILDet 

Ich liebe sie! 
Ich liebe diese großen, seelenbewegten, kleinen Geschichten, die Betonpfeiler, manchmal auch Hauswände, mir zu erzählen wissen.

Und das so ein kaltes Stück Stein, soviel, so unendlich viel, Wärme in sich tragen, und auch weitergeben kann an den, den es betrifft. 

Kann! Kann, ist das Schlüsselwort. 

Denn, wie sicher ist es schon, dass der Adressat diese, meist mit Herzblut, nicht selten aus schierer Verzweiflung, verfassten und niedergeschriebenen Worte, auch zu lesen bekommt…

Und dann, an einem Sonntag wie diesem, spätvormittags , steige ich aus einem Auto. 

Von Hunderten freien Plätzen im Parkhaus zufällig genau vor exakt diesem einen geparkt, an dessen Platzpfeiler die Momentaufnahme aus dem Leben eines anderen, eines für mich fremden Menschen, sichtbar wird. 

Ich lese die Worte, in den nur wenigen Zeilen.  – und in der, nur kurzen, dafür benötigten Zeit, beschenkt mich ein Mensch. Beschenkt mich mit seinem Hoffen, seinem Fühlen. Mit seinen Sehnsüchten, seinen Ängsten, mit seinen Wünschen. Beschenkt mich, den fremden, und ahnt es nicht einmal.

Ahnt nichts davon, wie sehr ich mir wünschen kann, einmal für jemanden „ein Dominik“ zu sein. 

   
 

(M)Eine Weihnachtsgeschichte(?) 

 Es war der Morgen nach Heiligabend. Noch dunkel. Meine Schritte wurden zögerlich. Ich wusste, ich würde ihn wieder hier finden, und doch… 

Mit jedem Jahr, mit jedem Morgen nach einem Heiligabend, wuchs meine innere Unruhe wenn ich mich auf den Weg machte. Mit jedem Mal mehr dieses unterschwellige fühlen von Verlust. 
Das schwere Holzportal schloss sich hinter mir. Im letzten Moment noch, aus den Augenwinkeln, das erwachen des Tages wahrnehmen. 
Die Luft im Raum war eine andere, würzig, kühl. Die Stille um mich herum besaß eine akustische Tiefe. Lautlos, und doch hörbar. 
Eine Bank, dunkel gealterte Eiche. Von Vielen in vielen Jahren glattgesessen. Der Alte saß mit dem Rücken zu mir, den Kopf gesenkt, ein aufgeschlagenes Buch im Schoß mit beiden Händen haltend. Viele Seiten. Dünnes Papier… 
„Du bist da…“ Im Moment als ich ihn ansprach löste sich sein statisch wirkender Zustand. Schwach wahrnehmbar seine Bewegungen, nur ansatzweise durch den Faltenwurf in seiner Kleidung erkennbar. 

„Und du bist gekommen. Das ist gut. Du bist bei dir.“ 

Seine Worte richtet er an mich ohne sich mir zuzuwenden. „Ich habe etwas für dich. Bewahre es seit einiger Zeit schon in mir, für dich.“ „Was ist es, wo?“ „Nimm!“ Beide Hände hoben sich, reichten mir das Buch. Ich nahm es, hielt es jetzt mit meinen Händen. Ein altes Buch, schwarzlederner Einband. Viele Seiten, dünnes Papier, und, gewichtig! 

Es war schwer. Sehr viel schwerer als Größe und Seitenzahl vermuten ließen. Mein Blick erfasste den Text der zuoberst aufgeschlagenen Seiten. Doch schon mit dem Leseversuch vom ersten Satz, verlor die alte Schrift an Substanz. Unlesbar. 
„Sag, was genau ist es, das du für mich hast?“ Noch beim aussprechen meiner Frage erhöhte sich das Gewicht des Buches ins kaum noch tragbare, zog mich herunter. Es loszulassen war mir unmöglich. Ich ging ächzend auf ein Knie, stützend für Buch und Hände, sah zu ihm: „Bitte, kannst du helfen?“ 

Jetzt wandte er sich mir zu. Das Gewicht der Seiten erhöhte sich noch einmal. Kein Leder mehr, kein Papier, …ein Stein! Und nur noch eine einzige Seite. 

Seine Stimme erhob sich: 

„Ja, ich kann helfen. 

Und du? …kannst du lesen!?“ 
Die Buchstaben bildeten sich einzeln vor meinen Augen im Stein: 

D U   S O L L S T   K E I . . . 



© Foto und Text by Carlder